Der Symbolismus lässt literarisch eine eigenständige Welt der Schönheit entstehen. Abseits von politischen, sozialen und gesellschaftlichen Implikationen entsteht somit eine autonome Darstellung der Wirklichkeit des Dichters. Sprache wird zum Hauptmerkmal des literarischen Symbolismus. Klanghaft und extrahiert vom Sinn ist die Wortkunst das stärkste Ausdrucksmittel aller Gedanken. Als Gegensatz zum Naturalismus setzen die Dichter und Autoren mit ihren Werken damit auf ein gedichtetes und gelebtes Bild der Wirklichkeit, fern von der postulierten Ernsthaftigkeit jeder symbolisch-fernen Darstellung der Welt. In „Total Eclipse“ erklärt die Literatur sich selbst als Hindernis und Sprungbrett von Idealen, Liebe und Weltanschauungen. Beide Protagonisten sind einzigartig in ihrer Zeit. Individualisten, im individuellen Sinne. Geliebt, nur für sie beide. Und verabscheut von der gesamten Gesellschaft.

Als Arthur Rimbaud (Leonardo DiCaprio) nach Paris zu dem bekannten Dichter Paul Verlaine (David Thewlis) zu Besuch eingeladen wird, offenbart sich durch Rimbaud ein rebellischer Lebenszug in der verkappten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Verlaine, gleichermaßen von Dichtkunst als auch dem rebellischen Geist des Sechzehnjährigen beeindruckt, fühlt den jungen Lebensmut in dem Jüngern und wird angesteckt. Der Ausbruch aus der Gesellschaft, das Verlassen seiner Familie und der Bruch mit der literarischen Konvention sind die Konsequenzen, die beide aus ihrer Bekanntschaft ziehen. Von nun an sind sie selbst nur noch im Mittelpunkt ihrer Interessen.

Beide Dichter sind Größen ihrer Generation im 20. Jahrhundert. Geblockt werden sie von den Maßregelungen der Gesellschaft und eingeengt von der eigenen Familie. Ausdruck der eigenen Individualität ist da eine marginale, beinahe gar nicht stattfindende Aktion der eigenen Persönlichkeit. Kommt es aber zum letztendlichen Punkt, in dem Wahrheit und Wille aufeinandertreffen, implodiert es und manifestiert sich in einem Schlag: Rimbaud und Verlaine sind keine Dichter im eigentlichen Sinne mehr. Verlaine ist in einem Tief seiner dichterischen Möglichkeiten. Keine Inspiration und kein Eifer mehr. Er ist verheiratet, erwartet ein Kind. Dann kommt dieser Bengel Rimbaud und macht ihm deutlich, wie langweilig und vor allem wie einseitig sein Leben ist. Welche Perspektiven hat er? Was bleibt ihm außer der Möglichkeit, zweitklassige Gedichte zu schreiben, die von Liebe, Verlust und Schmerz handeln? Doch dann passiert es: das Zusammentreffen zweier Individuen. Der eine, der Ältere, ist entzückt von der Jugendlichkeit des Anderen. Die Möglichkeit der Entfaltung und der Inspiration offenbart sich. Verlaine bleibt aber in seinem Tief. Er zerstört sich innerlich selbst.

Dieser gedankliche Außenseiter, der unfassbar große intellektuelle Geist, wird durch die Reflexion seiner selbst zur Ausgeburt seiner eigenen Fantasie. Kein Wahnsinn überfällt ihn, es ist profaner: der Alkohol. Im Anblick seiner selbst reflektiert sich das Bild von Rimbaud in ihm selbst und er wird zum Gehassten. Gehasst von sich selbst, von seiner Frau und auch von Rimbaud. Auf ihrer Reise durch Europa – von Paris, an die Nordküste Frankreichs, nach England – entzweien und lieben sie sich. Beide zerstören sich selbst. Während Verlaine in seinem alternden Geist gefangen ist, unklar, wie er sein Potenzial ausschöpfen soll, ist Rimbaud scheinbar frei von Zwängen und Problemen. Doch dieses junge und freie Potenzial, dieses Genie, ist ein Querdenker. Jemand anderes, als es bisher gab. In einer Szene, in der Verlaine und Rimbaud auf ein Dichtertreffen gehen und sich das Werk eines bekannten Dichters anhören, kommt es zur Eskalation: Diese tröge, inhaltsleere und beinahe schon karikativ-selbstreflexive Szene veranschaulicht im Mikrokosmos des Films deutlich, wie differenziert trotz aller Selektion historischer und stilistischer Mittel Regisseurin Agnieszka Holland ein fiktiv-historisches Bild kreiert. Sicherlich ist „Total Eclipse“ in seiner historischen Darstellung nur irrelevante Fiktion, dafür aber bezeichnet sich die metaphorische und intendierte Aussage als reine Fiktion, es protokolliert eine fiktive Wirklichkeit, die in der Interaktion der Protagonisten ein neuartiges, beinahe bezeichnend-aktuelles Bild darstellt.

Distanziert von jeglicher Beliebigkeit wird die Homosexualität von Rimbaud und Verlaine kein Akt sexueller und persönlicher Auseinandersetzung, sondern ein universelles Kausalprodukt der Persönlichkeiten. Holland interpretiert ihre Liebe nicht als Homosexualität, sondern als Liebe zweier intellektueller Geister. Ein Zugehörigkeitsgefühl, welches sich als Problem der Gesellschaft manifestiert. Verlaine, bis zu dem Treffen mit Rimbaud ein klar heterosexueller Mann mit einer Familie, ein Freiheitskämpfer während der Revolution, auf einmal vernarrt in Rimbaud. Die Homosexualität beider ist fern von physiologischer und anatomischer Abhängigkeit. Ihre Sexualität lebt sich in einer Liebe der Deckungsgleichheit aus. Sie lieben sich dann, wenn sie es brauchen, nicht, wenn sie es wollen. Als der endgültige Bruch zwischen Verlaine und Rimbaud geschieht, ist es einer Gewalt geschuldet, der Verlaine sich seinem ganzen Leben nur schwerlich entziehen konnte. Während seiner Ehe mit seiner Frau zündet er ihr die Haare im Alkoholrausch an und schleudert das eigene Kind durch das Zimmer. Es scheint, als wäre die Liebe der beiden in einer Katharsis der Gewalt, der Selbstfindung und Zerstörung gefangen. Der Ausweg aus diesem Kreis ist unmöglich. Rimbaud versucht den Bruch, scheitert an der Hilflosigkeit des Anderen.

Es ist nicht nur ein werkimmanentes Aufeinandertreffen zweier Größen. Auch in der realen, nicht dargestellten Welt, treffen zwei Giganten aufeinander. Leonardo DiCaprio, zwei Jahre vor seinem Welterfolg „Titanic“, macht aus dem jungen, ungestümen Arthur Rimbaud ein Genie, dessen Genie man nicht erkennt. Er wirkt wie der ungezogene Flegel eines Bauern. Keinerlei Koexistenz seiner Jugendlichkeit mit seinem (in der Realität deutlichem) Genie wird ausbuchstabiert. Stattdessen akzentuiert DiCaprio in seinem bisherigen besten Schauspiel seiner Karriere Rimbaud unterschwellig als Rebellen und Revolutionär des Geistes Verlaine. Durch ihn wird die Homosexualität nicht zum Produkt menschlicher Gelüste, sondern eine Metaphorik zwischen Wahn und Liebe. Doch selbst wenn DiCaprio dem Sturm der Jugendlichkeit ein Gesicht gibt, bleibt David Thewlis das wohl stärkere schauspielerische Pendant. Der Wandel zum Wahnsinnigen, vom eigentlich nur verlorenen Dichter, ist beinahe Angst einflößend, verstünde man den Charakter Verlaines nicht so gut. Thewlis, bekannt als Straßenphilosoph, Misanthrop und Arschloch aus Mike Leighs „Nackt“, ist eine Urgewalt schauspielerischer Perfektion. Sein Schauspiel, so deutlich dem Theater entliehen, macht aus Verlaine ein zerrissenes und vielseitiges Genie. Unsicher, wie man seine Darstellung verstehen soll, wandern alle Sympathien sofort weg von ihm, weil er so zweideutig und unklar ist.

Die Fronten und Positionen von Rimbaud und Verlaine lassen sich nur schwer definieren. Während Verlaine am Anfang wirkt wie ein ruhiger, nach Aufregung suchender Dichter, verwandelt er sich in den Wahnsinn. Gefühlsbetont, einer alternativen Wirklichkeit nachlaufend, ein amorphes und distanziertes Leben führend, verläuft sich Verlaine, indem er den Spuren Rimbauds hinterher läuft. Dieses junge Vorbild zerstört ihn letztendlich selbst und lässt ihn, trotz seiner Genialität, scheitern. Sieger gibt es dennoch keinen. Rimbaud ist ein ewig junges, gebrechliches Wesen auf der Suche nach seiner Individualität. Beide Protagonisten befinden sich auf einer endlosen Suche nach Literatur, Genialität und letztendlicher Liebe, die, trotz allem, wichtig und Sinn prägend für beide ist. „Total Eclipse“ ist kein Liebesfilm und auch kein Film über die Liebe, sondern ein Zeitbild. Ein Bild jener Epoche, der zwei Männer entsprangen, die neuartig denken, neuartig leben und neuartig sind. Wieso steht ein Viktor Hugo literarisch über einem Paul Verlaine, wenn Verlaine doch so reflektierend seine Epoche darstellt und sie literarisch mannigfaltig verarbeitete?

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